Jodi Picoult beschreibt eine sympathische farbige Frau und Mutter mittleren Alters, die ihre Berufung gefunden hat und ihren Job besonders gewissenhaft ausübt. Ruth ist Hebamme im Mercy-West Haven Hospital und liebt es sich um die Mütter und Babies zu kümmern bis ihre Welt durch eine besondere Begegnung mit einer rechtsradikalen Familie ins Wanken gerät. Turk, der Vater eines Säuglings verlangt eine weiße Krankenschwester und spricht sich gegen die Behandlung durch eine Farbige aus. Gerade als man als Leser zu schlucken beginnt und fassungslos über die große Ungerechtigkeit, die Ruth ertragen muss, ist, kommt es noch schlimmer und Jodi Picoult lässt uns daran teilhaben wie ein pflichtbewusster und besonders talentierter Mitmensch durch die Hölle gehen muss, weil ein rechtsradikaler Kleingeist in seiner Vergangenheit mehrmals falsch abgebogen ist und nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden kann.
„Am Tag, bevor die Kurse beginnen sollten, führte Mutter mich zum Essen aus. „Dir ist es bestimmt, kleine große Dinge zu tun“, erklärte sie mir. „Genau wie Dr. King das gesagt hat“.
Seite 222

Jodi Picoult schreibt abwechselnd aus der Sicht der Protagonisten Ruth, als leidtragende farbige Hebamme, ihrer (weißen) Anwältin Kennedy und des rassistischen und trauernden Familienvater Turk. Die Erzählweise ist gut gewählt und versetzt den Leser in die verschiedenen Perspektiven der beteiligten Parteien und erklärt das jeweilige Verhalten durch Hintergründe in der Entwicklung und Gedankengänge der Personen. Es fällt leicht mit der ungerecht behandelten Hebamme und ihrer verständnisvollen Anwältin (die wirklich über sich hinauswächst) zu sympathisieren. Gleichzeitig ist es schier unmöglich den rechtsradikalen Turk und seine Familie nicht sofort zu verurteilen, wenn auch vielleicht ein Funke Mitleid aufflackert, wenn man bedenkt welchen Verlust das junge Ehepaar erleiden musste.
„Los geht´s‘ – verkünde ich und greife in meinen Mantel, wohl wissen, dass er mir folgen wird. Ich brauche ein paar zusätzliche Hände. Und diese müssen zudem schwarz sein.“
Seite 374

Achtung Spoiler
Etwas schade finde ich, dass Jodi Picoult nicht auf ein (zumindest halbes) Happy End verzichten konnte und den rechtsradikalen „Bösewicht“ Turk des Romans zu einem mitfühlenden und fast schon offenherzigen Vater einer Tochter werden ließ. Ich bin der Meinung, dass eine derartige Entwicklung, so sehr wir sie uns auch wünschen mögen, eher unwahrscheinlich ist. Die meisten Mitglieder von diesen sektenähnlichen Organisationen können nicht (auch nicht bei schwerwiegenden Schicksalsschlägen, wie dem Verlust geliebter Menschen) bekehrt werden und bleiben Zeit ihres Lebens treue Anhänger. Jodi Picoult ließ nicht nur einen, sondern gleich zwei rechtsradikale Männer zu sanften modernen Vätern mutieren, die zu Hause bleiben um sich um die Kinder zu kümmern, während die Ehefrauen die Familie ernähren. Mir persönlich sind diese Entwicklungen zu drastisch und nicht realistisch – ich kaufe es Turk einfach nicht ab eine solche 180 Grad Drehung vollzogen zu haben und schätze diese Facetten des Romans als nicht sehr glaubwürdig und zu optimistisch ein.
„Ich halte die Hand meiner Tochter, vielleicht hält sie auch meine, als befänden wir uns an einer Kreuzung, an der es meine Aufgabe ist, sie auf die andere Seite zu bringen.“
Seite 577

Fazit
Es gibt Bücher, die besonders stark beeinflussen und manchmal sogar eine Veränderung und persönliche Entwicklung anstoßen können. Das ist natürlich abhängig von der eigenen Lebensphase und den Themen mit denen man sich selbst gerade herumschlägt. Zufällig hat dieses Buch bei mir einen Nerv getroffen. Als Mensch mit einem sehr ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, waren mir Rassismus und Voreingenommenheit immer schon ein Dorn im Auge und haben mich situationsabhängig traurig oder sehr wütend gestimmt. Dieses Buch schärft die Sinne für rassistisches Gedankengut und der alltäglichen Andersbehandlung von Farbigen.
Abgesehen von der brisanten Thematik und dem beeindruckenden Inhalt ist das Buch an sich sehr ansehnlich, die grafische Gestaltung des Einbandes ist in meinen Augen wirklich gut gelungen und erwähnenswert. Ein weiterer Positivaspekt des gesellschaftskritischen Buches sind die Zitate (wie jenes von Nelson Mandela) welche nach den Kapiteln angeführt werden und die Handlung perfekt abrunden.
Am liebsten würde ich jeden zwingen sich diese wunderbare Geschichte vorzunehmen um sich genau so wachrütteln zu lassen wie es bei mir der Fall war. „Kleine große Schritte“ ist ganz bestimmt keine leichte Kost, da man sich fast unweigerlich mit sich und dem eigenen Verhalten auseinander setzen muss und das auch sehr unangenehm und befremdlich sein kann. Ich habe aufgehört zu zählen wie oft ich Jodi Picoults Geniestreich in den wenigen Wochen seit dem Beenden der Lektüre wärmstens weiterempfohlen habe und ich hoffe wirklich, dass ihre Geschichte Früchte trägt und unsere Welt wenigstens ein kleines bisschen fairer macht.
„Menschen müssen zu hassen lernen, und wenn sie zu hassen lernen können, dann kann ihnen auch gelehrt werden zu lieben…“
Nelson Mandela, der lange Weg zur Freiheit
Seite 571
(verfasst von Simone)
Buchinformationen
Jodi Picoult - "Kleine große Schritte", Penguin Verlag, 368 Seiten, ISBN-13: 978-3328102601
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