„Unerhörte Stimmen“ von Elif Shafak

Gefangen im eigenen sterbenden Körber rekonstruiert die türkische Prostituierte Leila ihr eigenes Leben und führt den Leser Schritt für Schritt an den Punkt, der sie dorthin brachte an dem sie sich gerade ein paar Sekunden tot in einer Mülltonne befindet. Elif Shafak führt den Leser durch Leilas Entwicklung, beginnt bei der komplexen Figur ihrer Mutter und umreißt prägende Erfahrungen der Protagonistin in ihrer Kindheit bis zu ihrem Ausbruch und der Reise nach Istanbul. Die Stadt selbst wird von der Autorin auf so interessante Art und Weise mit Farben und Gerüchen beschrieben, dass man fast automatisch selbst durch die türkischen Straßen schlendert und das turbulente Treiben von hoffnungsfrohen Neuankömmlingen und abgeklärten Altstädtern beobachtet.

„Sie hatte so viele Fragen. Wieder und wieder ließ sie die letzten Augenblicke ihres Lebens Revue passieren und überlegte, an welchem Punkt das ganze schiefgegangen war – ein müßiges Unterfangen, weil sich die Zeit nun mal nicht zurück drehen ließ.“

Seite 10

Die Hauptrolle spielt in meinen Augen gar nicht Leila selbst sondern, ihre Begegnung mit und Zuneigung zu ihrer Wahlfamilie – ihre liebsten und engsten Freunde – die sie sogar als Leiche nicht im Stich ließen und alles riskierten um sie gebührend zu verabschieden. Sowohl die Protagonistin Leila als auch ihre Freunde, die nach und nach in den Vordergrund rücken und ihre Rolle spielen sind gut durchdacht, facettenreich und auf eigentümliche Art sogar sehr sympathisch.

„Im Bordell herrschten dunkle Farben vor: seelenloses Braun, schales Geld und das fade Grün von Suppenresten.“

Seite 77

Achtung Spoiler

Als Viel-Leserin passiert es mir nicht mehr allzu oft, dass das Ende einer Geschichte oder die Auflösung (wie beispielsweise bei Unerhörte Stimmen oder bei Kriminal-romanen) für mich vollkommen überraschend sind. Leider ist meistens das Gegenteil der Fall und diverse Wendungen sind für mich sehr absehbar. Dass Leila aber ein ganz x-beliebiges Opfer ist und theoretisch auch jede andere Prostituierte mit Glitzerkleid dem Mörder in die Hände fallen hätte können, kam für mich völlig unerwartet und hat für mich die Geschichte perfekt abgerundet. Leilas Tod war nicht persönlich und genauso beliebig, eigentlich zufällig, wie all jene Grausamkeiten, die sie und ihre Freunde ertragen mussten. Ohne jegliche Schuld oder Zutun wurden sie Opfer gewisser Regeln, die vor Jahrhunderten geboren wurden und an vielen Orten dieser Welt noch immer gelten.

„Manchmal meinte sie in der Art wie er sie anschaute, einen Vorwurf zu erkennen, als gäbe er ihr die Schuld an seinem Kummer.“

Seite 225

Fazit

Der Roman über Leilas Leben und die Menschen, die sie in ihren schönsten und schlimmsten Momenten begleiten, hat mich sehr berührt. Elif Shafak gelang ein unerwarteter Einstieg in eine Geschichte, die bereits innerhalb der ersten hundert Wörter große Lust auf mehr macht. Die Sprünge zwischen Gegenwart und Vergangenheit und die Teilung des Romans in mehrere Parts, die sich den engen Freunden Leilas immer im Speziellen widmen, war erfrischend anders und hat mir sehr gut gefallen.

Unerhörte Stimmen ist nicht eine Ansammlung von Meilensteinen nur einer Person, es werden die verschiedensten Schicksale diverser sehr gut durchdachter Figuren beschrieben, die jede auf ihre eigene Art und Weise direkt zu mir durchgedrungen sind. Dass vor allem die bedingungslose Hingabe und Freundschaft in Vordergrund gestellt wird und es sich bei den Figuren um die loyalsten Wegbegleiter, die man sich nur vorstellen kann, handelt, hat mir persönlich stark imponiert.

Elif Shafaks Werk ist sehr gesellschaftskritisch und thematisiert die größten Ungerechtigkeiten und Probleme unserer Welt mit Hauptaugenmerk auf das wesentlichste aller zwischenmenschlichen Beziehungen: Loyalität und Verständnis. Dabei hinterlässt der Roman überraschenderweise gar keinen bitteren sondern eher einen hoffnungsvollen und süßen Geschmack beim Leser, was wohl an der unbändigen platonischen Liebe und dem Zusammenhalt der vorkommenden Figuren liegen wird.

„Sie war glücklich, diesem lebenssprühenden Reich anzugehören, dieser tröstlichen Harmonie und dem weiten Blau, so hell wie die Geburt einer neuen Flamme. Sie war endlich frei“

Seite 419

(verfasst von Simone)

Buchinformationen

 Elif Shafak - "Unerhörte Stimmen", Kein & Aber, 432 Seiten, ISBN-13: 978-3036957906 

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