Eine einfache Bauersfamilie stößt durch Zufall auf ein ursprüngliches Verwandtschaftsverhältnis mit Adligen und schickt die älteste Tochter zu einer angeblichen Tante um ihre Zukunft zu sichern. Das Mädchen findet sich binnen kürzester Zeit im Unglück einer kalten von Doppelmoral geprägten Welt wider, die nur wenig Platz für junge Frauen und ihr Lebensglück aufzuweisen scheint.
Die Protagonistin ist ein allzu lebendiges und ausnehmend hübsches sowie frisches Bauernmädchen. Tess musste schon in jüngsten Jahren große Verantwortung für sich und ihre Familie übernehmen und wird als vernünftig und fleißig dargestellt. Sie ist sowohl zu jugendlichen Träumereien und Hoffnungen sowie im Verlauf des Romans nach Ablegen einer gewissen Reserviertheit auch zu einer unbändigen und vorbehaltlosen Liebe im Stande. Der unsagbare Schmerz und die Ungerechtigkeit lassen den Hauptcharakter gegen Ende auch wahnsinnige Züge annehmen, die aber nachvollziehbar und der Entwicklung entsprechend zu sein scheinen.

Angel wird als mutiger und ehrgeiziger Mann in seinen Mittzwanzigern dargestellt, der sich entschieden hat (entgegen der Familientradition) kein Priester zu werden und stattdessen sein Glück in der Landwirtschaft zu versuchen. Thomas Hardy verleiht dem männlichen Protagonisten einerseits ein sehr romantisches und liebevolles Wesen und auf anderer Seite aber auch eine etwas grausame, stolze und gnadenlose Ader.
„Das Wissen um ihre Liebe zu ihm, als reine Liebe, erhöhte ihre Würde; sie schien eine Krone zu tragen. Seine mitleidsvolle Liebe zu ihr, wenn sie beide verglich, ließ ihr Herz in Verehrung für ihn schlagen.“
Seite 247
Die altertümliche Sprache entspricht dem Ende des 18. Jahrhunderts und bringt natürlich ihre Eigentümlichkeiten, aber auch ausgesprochen schöne Beschreibungen mit sich. Ich habe einige Seiten lang gebraucht um mich mit der Ausdrucksweise zu arrangieren und mich zu gewöhnen, habe aber dann die Schreibweise des Autors in vollen Zügen genossen. Thomas Hardy spielt mit gut durchdachten Metaphern und Umschreibungen für Natur und Emotionen. Seine brillante Wortwahl und der große Einfallsreichtum können nur gelobt werden.

Achtung Spoiler
Ein junges Bauernmädchen, für das sich auf Grund bisher unbekannter Verwandtschaftsverhältnisse eine Tür in eine potenziell wunderbare Zukunft öffnet, geht von Zuhause weg um ihr Glück zu suchen. Es bricht einem fast das Herz, dass ihre Wünsche und Hoffnungen für eine kurze Vergnügung mit einem Schlag zunichte gemacht werden. Die folgenden Passagen versetzen den Leser in eine trübsinnige Stimmung, man fühlt mit Tess, die ein Kind von einem Menschen, der sowohl ihre Zukunft als auch ihren freien Willen mit Füßen getreten hat, austragen und die Vorwürfe und Schande ihrer Familie ertragen muss. Gerade als man aufatmet und es wagt zu hoffen, dass die junge Frau vom Land in der Liebe zu ihrem Kind endlich Freude erfahren darf, stirbt dieses auf Grund einer Krankheit binnen kürzester Zeit. Thomas Hardy trifft bei seinen Lesern einen Nerv, es will einem einfach nicht einleuchten wieso Tess als Opfer der Gesellschaft der Gewalt eines Mannes so ausgeliefert ist und wieso ihr Leiden nicht enden kann. In meinen Augen waren diese Abschnitte aus Thomas Hardys Tess nur schwer zu ertragen.
„Er blieb unerbittlich, und sie hielt still, und D’Urberville gab ihr den Kuß der Macht.“
Seite 72
Während Tess und Angel sich inbrünstig verliebten, habe ich aufgeatmet und mich für die junge Frau gefreut, es schien so als wäre endlich ihre Zeit gekommen glücklich zu sein – bis zur großen Wendung als sie den Weg der Ehrlichkeit wählte und ihrem Gatten kurz nach der Vermählung ihre Vergangenheit beichtete. Thomas Hardy gelang eine detailreiche Schilderung der großen Verzweiflung und Niedergeschlagenheit der jungen Tess, die sich der Zurückgezogenheit ihres Mannes beugen musste und der nichts anders übrigblieb als auszuharren und zu warten ob er er jemals mit ihrer Vergangenheit würde leben können. Die emanzipierte Frau in mir hat während dieser Kapitel natürlich getobt – immerhin hatte auch Angel einige Kerben im Holz und ist ebenfalls weder jungfräulich noch rein in die Ehe mit der Bauersfrau gegangen. Meiner Meinung nach war seine (übertriebene) Moral eine heuchlerische und am liebsten hätte ich den angehenden Landwirt geschüttelt, zur Vernunft gebracht und auf Gleichbehandlung sowie Gerechtigkeit plädiert.
„Ein paar Augenblicke verstrichen und er sah, daß Tess fortgegangen war. Sein Gesicht wurde kälter und eingefallener, wie er so in gespannten Sinnen einen Augenblick dastand, und eine oder zwei Minuten später fand er sich auf der Straße, schreitend und schreitend, ohne zu wissen, wohin.“
Seite 486

Fazit
Thomas Hardy´s tragische Geschichte über Tess, ein Bauernmädchen, dem das Schicksal übel mitspielte. Von Beginn an empfand ich tiefes Mitleid für das unbescholtene junge Mädchen, dass in einer Welt voller Männer, die sich einfach nehmen was sie wollen, nicht standhalten konnte und von einem Unglück ins andere stolperte. Es ist fast unmöglich sich nicht von der fesselnden Handlung mitreißen zu lassen, dem Autor gelang ein wunderbares Erzähltempo und der Aufbau großer Spannung – nur mit Widerwillen konnte ich das Buch weglegen..
„Und wie sie alle sich der Himmelssonne erfreuten, so besaß auch noch jede einzelne eine geheime kleine Sonne, an der sie ihre Seele wärmte: irgendeinen Traum, eine Neigung, irgendein Steckenpferd, zumindest eine ferne und leise Hoffnung, die vielleicht langsam Hungers sterben mußte und dennoch ihr Dasein fristete, wie die Hoffnung immer und überall. So waren sie denn alle heiter und viele von ihnen lustig.“
Seite 17
Abschließend kann ich sagen, dass Thomas Hardy´s Roman bei mir noch besser ankam als erwartet und einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Abgesehen von der grandiosen Sprache des Autors – manche Passagen haben mich so beeindruckt, dass ich sie drei oder vier Mal gelesen habe – überzeugt der britische Klassiker durch seine brisante Handlung und Gesellschaftskritik. Das traurige Schicksal des blutjungen Mädchens hat mich sehr berührt und melancholisch gestimmt und ich bin mir sicher, dass ich noch einige Wochen gedanklich in Tess´ trauriger Geschichte verweilen und nachsinnen werde.
Buchinformationen
Thomas Hardy – „Tess von d´Urbervilles“, Piper Taschenbuch, 512 Seiten, ISBN-13: 978-3492303507
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