Ein junger aufstrebender Wirtschaftsstudent und gläubiger Jude im genau richtigen Alter wird von seiner (Glucken-)Mutter auf Brautschau geschickt. Er erkennt auf dieser mühsamen Reise von einer vielversprechenden Partnerin zur anderen, dass ihn die Schicksen (= Nichtjüdinnen) – in ihren engen Jeans und den ansprechenden Hinterteilen, die darin so toll zur Geltung gebracht werden – viel mehr faszinieren und zum Schwärmen bringen.
Der Protagonist Moische bzw. Motti konnte mich bereits in den ersten Minuten des Hörbuches für sich einnehmen, es handelt sich um einen sympathischen und wortgewandten jungen Mann mit messerscharfem Verstand und Mut zur Auflehnung gegen elterliche Regeln. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch der Charakter von Motti´s korpulente Mame, die von Meyer herrlich als besonders laute und dramatische Person dargestellt wird, die aus ihrer unbändigen Neugierde keinen Hehl macht und für die eine baldige Hochzeit ihres Sohnes erste Priorität hat.
Eines der signifikanten Erkennungsmerkmale des Romans über Motti und sein Dilemma mit den Frauen ist die Ausdrucksweise. Thomas Meyer hat sein Werk zumindest halbwegs in Jiddisch verfasst und nach einer anfänglichen Gewöhnungsphase, kommt man leicht in die Sprache und kann wunderbar folgen. Ich bin der Meinung, dass sich der Gesellschaftsroman vor allem durch das Jiddisch von der breiten Masse der Belletristik abhebt und kann das Sprachengemisch daher nur als weiteres Pro der Lektüre anmerken.

Achtung Spoiler
Der Autor bedient einige amüsante Klischees, wie beispielsweise die überintensive Bemutterung von Wolkenbruchs Mutter, die Todesqualen zu erleiden scheint, weil ihr jüngster Spross die wahnwitzige Idee hat, selbst über sein Leben bestimmen zu wollen. Laufend stellt sie ihm jüngere jüdische und (zumindest im Roman so beschriebene) pummelige Versionen ihrer selbst vor um sicher zu gehen, dass ihr Sohn eine adäquate Braut erwählt, die mindestens so fromm ist wie er selbst. Die Schilderung mit welcher Dramatik die jüdische Mutter kommentiert, dass ihr Sohn Motti diverse Entscheidungen zu seinen Outfits oder gar seiner Brille von ihr unabhängig trifft, sich scheinbar versucht abzunabeln und sie nicht mehr braucht, ist ebenfalls ausgezeichnet gelungen.
Motti schwärmt von Beginn an für die attraktive Mitstudentin Laura und ich war lange der Meinung, dass diese Schwäche nicht auf Gegenseitigkeit beruht und Mottis Tagträume unerfüllt bleiben würden. Daher hat es mir besonders gut gefallen, dass Thomas Meyer den frommen und unscheinbaren Motti mit einem so intelligenten Wortschatz ausgestattet hat, dass dieser die hübsche Schweizerin bei der ersten Gelegenheit von sich überzeugen konnte. Es kommt also tatsächlich zu einer (nach Mottis Geschmack etwas zu wenig festen) Liebelei, die aber trotzdem mehr ist als der sympathische junge Jude jemals zu wünschen gewagt hätte. Wie sich das Verhältnis der beiden Wirtschaftsstudenten allerdings weiterentwickeln wird und ob Laura doch noch erkennt, dass Motti der einzig richtige für eine Schickse wie sie ist, lässt Thomas Meyer jedoch offen. Um ehrlich zu sein, frage ich mich seit dem ständig wie die Geschichte weiter geht und ich nehme dem Autor schon etwas übel, dass er mich mit einem so offenen Ende einfach sitzen lässt…
Fazit
Thomas Meyers amüsanter jiddischer Roman über Herrn Wolkenbruch und sein Dilemma mit den Frauen hat mich schlichtweg begeistert. An einer Tatsache habe ich mich allerdings ein wenig gestoßen. Ein paar Witze über Antisemitismus und den Holocaust konnte sich der Autor in seiner lockeren Schreibweise der Geschichte des jungen Juden auf Brautschau wohl nicht verkneifen. Ein, zwei Mal war ich ein bisschen schockiert über Meyers Scherze, allerdings wurde ich durch die folgenden Passagen wieder besänftigt und bin zu der Erkenntnis gelangt, dass man den Roman wahrscheinlich nicht uneingeschränkt ernst nehmen darf und über einige Passagen einfach hinwegsehen sollte.
Der Autor ermöglicht eine spannende Reise in die Welt der orthodoxen jüdischen Bevölkerung und man bekommt einen Eindruck wie vor allem die jüdische Gemeinde in der Schweiz tickt. Meyer liefert neben all den Anekdoten und ironischen Bemerkungen Mottis eine Vielzahl an interessanten Fakten über das Judentum an sich, diverse Praktiken und Facetten des Glaubens. Das ermöglicht so nebenbei während eines unterhaltsamen Gesellschaftsromans einiges zu lernen, einige (bisher) nicht gestellte Fragen wurden beantwortet und ich bin mir sicher, dass die eine oder andere Tatsache bei mir hängen geblieben ist.

Ganz abgesehen davon, dass ich sehr beeindruckt bin, dass es sich bei diesem Hörbuch um eine Autorenlesung handelt, muss ich einfach betonen wie sehr mich Thomas Meyers unwiderstehlicher Lesestil begeistert hat. Ohnehin schon witzige Passagen wurden durch seine Betonung und absichtlich eingelegte Pausen oder das Heben und Senken der Stimme wirklich unschlagbar lustig und ich musste tatsächlich einige Male laut auflachen. Der Autor verfügt über einen einfallsreichen und intelligenten Wortschatz und einen Hang zum Sarkasmus, was den gesamten Roman gepaart mit den sehr zahlreichen jiddischen Floskeln für mich persönlich (wider Erwarten) zu meinem derzeitigen Lieblings-Hörbuch macht. Ich weiß nicht, ob die amüsanten Dialoge und das Jiddisch beim Lesen des Romans genau so lustig rüberkommen, kann mir aber schon vorstellen, dass nicht nur das Hörbuch von Thomas Meyer sehr großen Spaß macht.
Ihr könnt meinen obigen Ausführungen entnehmen, dass es sich bei „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ um eine sehr kurzweilige, vergnügliche und originelle Lektüre handelt, die ich wärmstens weiterempfehlen kann.
(verfasst von Simone)
Buchinformationen
Thomas Meyer – „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“, gelesen von Thomas Meyer, Diogenes Hörbuch, 287 Minuten, ISBN-13: 978-3257803396
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