The Kingdom – ein Mega-Vergnügungspark der Zukunft, der die Menschen von der völlig verschmutzten Umwelt, den Unruhen und der voranschreitenden Verzweiflung ablenken und einen Ausflug in ein surreales Paradies voller eigentlich ausgestorbener Tierarten und makellosen Prinzessinnen ermöglicht. Mitten in dieser Traumwelt und Perfektion wird einer wunderschöne Fantastin – einer künstlichen Intelligenz – vorgeworfen kaltblütig einen Parkmitarbeiter ermordet zu haben.
Die Protagonistin Ana ist ein Hybrid – halb Mensch, halb Maschine – und hängt sehr an ihren Schwestern und den Tieren des Vergnügungsparks, die mit ihr das Schicksal teilen und der reinen Unterhaltung der Parkbesucher dienen. Jess Rothenberg kreierte einen sehr sensiblen, feinfühligen und empathischen Hauptcharakter mit ausgeprägter Loyalität zu ihren Leidensgenossinnen. Es fällt schwer Ana nicht sofort ins Herz zu schließen und kein Mitleid zu empfinden als sie beginnt ihr eigenes Leben zu hinterfragen und sich über diverse Entscheidungen und Handlungen der Machthaber zu wundern. Im Zuge dessen bewegt sie sich langsam aber stetig auf ihr eigenes Verderben zu… Anas Schwestern, die anderen makellosen Prinzessinnen aus The Kingdom, verhalten sich entsprechend ihrer Generation mehr oder weniger menschenähnlich und man hat den Eindruck von hübschen, unschuldigen Mädchen, die in Gefangenschaft gehalten, von der Außenwelt abgeschottet unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, in Schach gehalten und als Marionetten gezielt eingesetzt werden.
„Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich die Antwort auf seine Frage kenne. Was bedeutet es jemanden zu mögen? Ich weiß, dass mein Puls lauter zu werden scheint, wenn ich in seiner Nähe bin. Ich weiß, dass ich nachts an ihn denken muss. Aber liegt das daran, dass ich ihn mag? Oder daran, dass ich darauf programmiert bin, ihn zu mögen? So wie ich darauf programmiert bin, alle Menschen zu mögen?“
Seite 166
Der Roman rund um die Fantastinnen und den futuristischen Mega-Fantasy-Unterhaltungspark wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Auf der einen Seite wird in Dialog-Form die Befragung Anas im Rahmen der Gerichtsverhandlung in der Jetzt-Zeit erzählt, wobei in diesem Zusammenhang auch diverse Beweismittel wie E-Mails und Bilder aus Videonahmen in den Roman eingeflochten wurden. Die zweite Perspektive wird von der Protagonistin Ana in der Ich-Form erzählt – sie schildern die Vorkommnisse von der Vergangenheit bis zur Gegenwart. Der Aufbau des Romans ist interessant, abwechslungsreich und wurde in meinen Augen gut gewählt – es war aufregend, denn mir haben die abgedruckten Fotos zur Veranschaulichung gefallen, die der Handlung etwas sehr Reales verleihen.

Achtung Spoiler
Ana schenkt einem jungen Parkangestellten nicht nur ihr Vertrauen, sondern auch ihr (wenn auch maschinelles) Herz. Sie scheint sich mit einer kindlichen Begeisterung und Unschuld Schritt für Schritt in den attraktiven Owen zu verlieben, der zwar auf den ersten Blick einen sehr korrekten und ehrlichen Eindruck macht, sich aber leider auf Anweisung der Investoren an Ana heranmachte um ihr Gefühlsleben und ihre Reaktionen innerhalb der Beziehung zu ihm erforscht und dokumentiert. Ich habe sehr stark auf die große Enttäuschung von Ana reagiert, die zu zerbrechen scheint, als sich ihr durch Zufall die Wahrheit offenbart und ihr der letzte Strohhalm an kindlicher Hoffnung auf Liebe und Zuneigung entrissen wird. Die Ungerechtigkeit der Situation an sich und die grausamen Handlungsweisen der Drahtzieher rauben dem Leser fast den Atem.
„Wie damals, als ich den Park und seine Besonderheiten noch nicht kannte – die geheimen Türen, die verschlungenen Pfade -, als ich noch nicht singen, tanzen, oder in ganzen Sätzen sprechen konnte. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr wie eine Fantastin. Ich fühle mich wie eine Maschine“
Seite 173
Das Ende des Romans betont ein weiteres Mal die Grausamkeit der Menschen, die das wahre Wesen der Fantastinnen nicht erkennen (wollen) und stattdessen ein enormes Gewinnpotenzial in der Kreation von Haushalts-Sklavinnen in Form der Mensch-Maschine-Hybriden identifizieren. Ana stoßt auf den Grund für das drastische und selbstzerstörerische Verhalten ihrer Schwestern, das ihr bis zu dem Augenblick der Erkenntnis ein großes Rätsel war und ist geschockt von der Zukunft, die ihresgleichen – den bereits produzierten und noch nicht aktivierten Leidensgenossinnen – bevorsteht. Für mich persönlich war diese Szene einerseits die wahrscheinlich traurigste des ganzen Buches – die sensible und empathische Ana, die sich trotz ihrer Fluchtmöglichkeit kaum losreißen kann und nur mit großer Überwindung akzeptieren kann, dass ihr im Moment die Hände gebunden sind. Auf der anderen war ich sehr gerührt, dass Ana einen Komplizen in Owen gefunden hat, der offensichtlich echte Gefühle für sie entwickeln konnte und ihr leidenschaftlich verspricht mit ihr gegen die Investoren und ihre morbide Geschäftsidee etwas zu unternehmen und an Anas Seite zu kämpfen. Jess Rothenberg hat es somit geschafft den Abschluss des Romans mit einem (wenn auch klitzekleinen) Happy-End zu versehen und andererseits Spielraum und Auflagen für anschließende Bände geschaffen.
„Ich schaue an mir hinunter. Mein Körper sieht… anders aus. Meine Beine sind nicht mehr gerade, sondern in unnatürlichen Winkeln seitlich verdreht. An meinem rechten Arm ist die Haut weggerissen, und aus einem klaffenden Loch schauen durchtrennte Drähte und verbogenes Metall hervor.“
Seite 234

Fazit
Der Klappentext des Buches „The Kingdom – das Erwachen der Seele“ wird dem die Erwartungen übertreffenden Inhalt nicht gerecht und hat mich bereits nach den ersten Seiten in seinen Bann gezogen. Ich bin fasziniert von einer völlig neuen Welt und Umgebung, die Jess Rothenberg in ihrem Werk erschaffen hat und damit den Lesern endlich wieder ein frisches und neues Setting bietet. Überzeugt hat mich aber nicht nur der Rahmen der Geschichte, sondern auch die Gestaltung des Hauptcharakters und ihrer Freundinnen (oder Schwestern). Die langsame, aber stete Entwicklung eigener Moralvorstellungen und vonEmotionen haben mich sehr berührt und beeindruckt. Wer von einer blumigen und lockeren Handlung ausgeht, wird sich wundern – Jess Rothenberg lässt ihren Roman in einer sehr grausamen (leider auch sehr realistischen) Welt der Zukunft spielen. Ich war hin- und hergerissen zwischen Faszination und Ekel vor Rothenbergs Vorstellung unserer zukünftigen Welt und Gesellschaft, die zwar unendliche technische Möglichkeiten aufzuweisen scheint, aber gleichzeitig auch von Leid und Unterdrückung geprägt ist.

„The Kingdom – das Erwachen der Seele“ wird von mir als Fantasy-Science Fiction-Kriminalroman bezeichnet, der den Leser fast augenblicklich in die düstere Stimmung des geschaffenen Umfelds voller Profitgier und Gefühlskälte katapultiert, von mir in einem Rutsch verschlungen wurde und wärmstens weiterempfohlen wird. (Ganz abgesehen davon, dass das Buch auch ein Highlight für´s Auge ist und sich bestimmt in jedem Bücherregal wunderbar macht).
PS: Diesen Bücherschatz konnte ich bei unserem „Buchgenuss bei Ladenschluss“ bei HEYN erwerben 😉
(verfasst von Simone)
Buchinformationen
Jess Rothenberg – „The Kingdom – Das Erwachen der Seele“, Oetinger, 320 Seiten, ISBN-13: 978-3789114076
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