„Der Riss“ von Hye-Young Pyun

Schwer verletzt wacht der Geographie-Professor Ogi nach einem  Autounfall im Krankenhaus auf. Seine Frau kommt dabei ums Leben. Schnell begreift er, dass er fast vollständig gelähmt ist. Von einem Tag auf den anderen kann er nicht mehr aufstehen und ist ganz und gar auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen.  Das einzige Familienmitglied, das Ogi noch geblieben ist, ist seine Schwiegermutter, zu der er bisher ein angespanntes Verhältnis hatte. Diese übernimmt die Vormundschaft und Pflege.

Die Schriftstellerin Hye-Young-Pyun hat mit „Der Riss“ einen packenden und erschütternden Roman erschaffen und lässt eine ganz spezielle Art von psychologischem Horror entstehen. Einsamkeit, Schuldbewusstsein und Entwurzelung hinterlassen tiefe Spuren im Leben der Protagonisten.

 Die Geschichte wird in zwei Handlungssträngen erzählt. Der eine lässt uns an der aussichtslosen Hilflosigkeit Ogis gegenwärtiger Situation teilhaben, während parallel ein Rückblick in seine Vergangenheit gezeigt wird. Indessen Ogi aus dem Koma erwacht und sich in seiner neuen Lebenslage zurecht findet, erzählt die Autorin über das Kennenlernen und den Lebensweg mit seiner Frau. Als Ogis Gedanken über das Leben und seine Partnerschaft immer niedergeschlagener werden, wird auch die Gegenwart und der Kampf um seine Genesung immer aussichtsloser.

 Achtung Spoiler

Seit dem Unfall ist Ogi ein Gefangener seines Körpers, machtlos liegt er da, zu nichts weiter fähig außer zu Blinzeln. Das Gefühl, das dem Leser vermittelt wird, ist beklemmend und entmachtend. Dieses verstärkt sich bis zum Ende des Buches. Die Demütigung, die er erfährt, wird noch intensiver, als der Patient vom Krankenhaus in sein altes Haus umzieht und von nun an von der Mutter seiner Frau gepflegt wird. Anfangs wird die Pflege noch von einer Pflegekraft und einem Physiotherapeuten übernommen und kleine Fortschritte werden verzeichnet. Nach und nach scheint die Schwiegermutter die Heilung zu sabotieren. Auslöser waren einige Schriftstücke ihrer Tochter, die die Mutter gefunden hat und die erahnen lassen, dass Ogi seine Frau betrogen hat und die Ehe nicht mehr dem entsprach, wie sie nach außen hin zu sein schien. Von diesem Moment an lässt die Schwiegermutter Ogi ihre Wut und Trauer jede Minute spüren. Sie demütigt ihn vor seinen Arbeitskollegen, verschiebt OP Termine und kümmert sich nur mäßig um seine Erholung. Der Leser erfährt die Geschichte aus der Perspektive von Ogi. Deshalb bleibt es nur Wenig, das wir von seinem Bett aus erleben dürfen. Umso stärker erfahren wir die Gefühle des Protagonisten und durchleben ein Wechselspiel zwischen Hoffnung, Schwermut, Zorn, Liebe und Furcht.

Sein Umfeld behandelt ihn, als wäre er gar nicht im Raum.  Freunde und Bekannte fühlen sich gänzlich unwohl in seiner Nähe und die Besuche werden weniger, bis sie gänzlich ausbleiben.

Ein zentraler Bestandteil der Geschichte ist der schöne Vorgarten des Hauses. Dieser wurde von Ogis Frau im übertriebenen Maße gehegt und gepflegt. Es scheint, als würde sie ihr Scheitern im Leben damit kompensieren. Nach ihrem Tod übernimmt die Schwiegermutter die Gartenpflege, oder um es treffender auszudrücken – die Verunstaltung. Sie gräbt wie besessen ein riesiges Loch und bringt damit ihre innersten Gefühle und die Schuldzuweisung Ogi gegenüber zum Ausdruck. Der Kleingarten wird damit zu einem Hauptbestandteil der Geschichte und spiegelt das Innenleben der zwei Frauen wider.

Die Beschreibung der Charaktere bleibt oberflächlich, dadurch habe ich nie gänzlich in die Geschichte gefunden. Ogis Frau und deren Mutter wirken auf mich gefühlskalt, sie bleiben für mich Fremde. Auch die Figur Ogis war mir letztlich nicht sehr sympathisch. Die Erinnerungen und Beschreibungen über seine Beziehung zu seiner Frau sind abwertend, die Partnerschaft macht einen insgesamt unglücklichen Eindruck. Überheblich beschreibt er seinen Beruf, und sein Umfeld. Auch während der Ausführung über die Erniedrigungen denen er im Krankenbett ausgesetzt ist, bleibt er für mich unnahbar.

Leider ist das Ende offen. Auch die Frage ob Ogi den Wagen absichtlich gegen die Leitplanke gelenkt hat bleibt ungelöst. Seine unglückliche Beziehung, die wachsende Frustration und seine Trägheit, dagegen etwas zu unternehmen deuten jedoch stark darauf hin. Am Ende bleibt die Botschaft, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und das Leben zu genießen, solange man die Möglichkeit dazu hat.

 FAZIT

Ich freute mich auf dieses Buch, da es meine erste südkoreanische Lektüre war. Die Autorin schreibt sehr stimmungsvoll.  Schräge Konstellationen und beengende Situationen schaffen eine Geschichte, die die menschlichen Abgründe auf ungewöhnliche Weise ans Tageslicht bringen.

Ich habe sehr lange gebraucht um in die Geschichte hineinzufinden. Der Beginn des Buches verläuft eher schleppend und wenig spannend. Die zweite Hälfte habe ich dann verschlungen. In diesem Teil ist die Atmosphäre des kargen Umfelds erdrückend und schafft dadurch eine enorme Spannung. Man hofft, dass Ogi wieder auf die Beine kommt, fiebert und leidet mit ihm mit und hat das Gefühl jede Demütigung selbst mitzuerleben. Die subtile Grausamkeit zeigt sich erst im zweiten Abschnitt. Leider kann ich das Buch dennoch nicht restlos weiterempfehlen, da ich gerne mehr über die Protagonisten, deren Gefühlslage und die Beziehungen untereinander verstanden hätte. Zu viele Fragen sind letzten Endes offen geblieben.

(verfasst von Manuela)

Buchinformation

Hye-Young Pyun - "Der Riss", btb, 221 Seiten, ISBN-13: 978-3442757718

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